Niedrigdosisabhängigkeit

Unerwünschte Wirkung im Verlauf

Vielfach werden die Kriterien bei einer Langzeiteinnahme von Medikamenten nicht erfüllt. Denn die durch den Arzt verschriebene Menge reicht nicht aus, um die Dosis zu steigern. Die kontrollierte Abgabe verhindert also den Kontrollverlust und begrenzt den Zeitaufwand, der nötig ist, um die Substanz zu beschaffen und sich von den Auswirkungen des Konsums zu erholen. Um die Problematik eines Langzeitkonsums im Niedrigdosisbereich zu etikettieren, wurde der Begriff der "Low Dose Dependency" ("Niedrigdosisabhängigkeit") in die wissenschaftliche Diskussion eingeführt.

Diverse Studien haben allerdings gezeigt, dass auch im Niedrigdosisbereich bei Benzodiazepin-Langzeitkonsumentinnen und -konsumenten typische Entzugserscheinungen auftreten, wenn das Medikament abgesetzt wird. Als Folgeschäden einer Langzeiteinnahme sind vor allem kognitive und mnestische Defizite zu nennen, vereinzelt werden auch Antriebsdefizite beschrieben. Diese Literatur bezieht sich ausschließlich auf die Gruppe der Benzodiazepine. Untersuchungen zu den Auswirkungen eines Langzeitgebrauches bei anderen Substanzen liegen bisher nicht vor.

Eine differenzierte Betrachtungsweise - und damit eine Alternative zum Konstrukt der Low Dose Dependency - hat Holzbach mit einem Fünf-Phasen-Modell des Benzodiazepin-Langzeitkonsums vorgelegt. Weil die Betroffenen Schwierigkeiten haben, die Diagnose einer Niedrigdosisabhängigkeit anzunehmen, erscheint es günstiger, von "Nebenwirkungen im Rahmen einer Langzeiteinnahme" zu sprechen und dabei das Fünf-Phasen-Modell nach Holzbach heranzuziehen. Ein solche Erklärung können Betroffene meist besser verstehen und damit auch leichter akzeptieren.

Werden Benzodiazepine dauerhaft eingenommen, kommt es in einer zunächst durch die körpereigene Gegenregulation allmählich zu einem schleichenden Wirkungsverlust und schließlich zu einer Wirkumkehr. Die Betroffenen verspüren erste "relative Entzugserscheinungen", welche durch eine Unterdosierung entstehen, aber als solche nicht erkannt werden. In der Folge steigern die Betroffenen in geringem Ausmaß leicht die Dosis und es bildet sich ein Apathiesyndrom heraus, das gekennzeichnet ist durch kognitivmnestische Defizite, affektive Indifferenz und fehlende körperliche Energie. Wird darauf folgend von Betroffenen die Dosis deutlich erhöht, sind die typischen Suchtkriterien erfüllt. Häufig wird der Schritt zur Sucht durch zusätzliche Quellen oder illegale Beschaffungswege gebahnt, sodass eine kontrollierte Abgabe durch einen Arzt nicht mehr vorliegt.

Das Fünf-Phasen-Modell

Bei sehr niedrigen Dosierungen oder nur unregelmäßiger Einnahme – auch über längere Zeiträume – können, müssen aber nicht, unerwünschte Wirkungen auftreten. Wenn sich solche Folgeerscheinungen entwickeln, sind es die der Phase 2. Die Verträglichkeit sollte bei weiterer Einnahme regelmäßig mittels des Lippstädter Benzo-Check überprüft werden.

Üblicherweise wird die Dosis gesteigert, wenn Stoffe mit einem Abhängigkeitspotenzial aufgrund des Gewöhnungseffekts nicht mehr wirken wie gewünscht. So wird z.B. statt einem „Feierabend-Bier“ immer öfter ein zweites getrunken usw. Menschen, die Respekt vor Medikamenten haben, werden das nicht so ohne weiteres tun. Aber auch ohne Dosissteigerung gewöhnt sich der Körper immer besser an das Medikament, so dass mit der Zeit die Gewöhnung bzw. die Gegenregulation überwiegt. In Relation zum tatsächlichen Bedarf sind die Betroffenen unterdosiert, oder anders ausgedrückt, ständig entzügig. Dementsprechend treten Entzugserscheinungen wie Unruhe, Stimmungsschwankungen, Dünnhäutigkeit sowie Gereiztheit und Schlafstörungen in den Vordergrund.

Wird die Dosis auf zwei bis drei Tabletten gesteigert, ändert sich das Nebenwirkungs-Bild: Konzentrations- und Merkfähigkeitsstörungen, fehlende emotionale Beteiligung und nachlassende körperliche Energie führen zu erheblichen Beeinträchtigungen und Verminderung der Lebensqualität. Häufig sind diese Veränderungen von „Alterserscheinungen“ oder depressiven Störungen nicht zu unterscheiden. Erst ein Absetzversuch (siehe unten) wird Klarheit schaffen.

Wenn die Dosis nochmals gesteigert wird, zeigen sich immer mehr Symptome einer Suchterkrankung: Vernachlässigung anderer Interessen, fortgesetzte Einnahme trotz negativer Folgen, Verlangen bis hin zum Zwang, die Medikamente dabei zu haben bzw. sie einzunehmen, Dosissteigerung, Entzugserscheinungen. Nun besteht eine echte Abhängigkeit, eine Suchterkrankung hat sich entwickelt.

Diese Phase wird in der Regel nur bei Beschaffung auf illegalem Wege erreicht, da die eingenommenen Mengen sehr hoch sind. Es dominiert der gestörte Tag-Nacht-Rhythmus mit subjektiv fehlendem Schlaf aber ständigem (kurzen) Einschlafen. Darüber hinaus ist die Aufmerksamkeitsspanne gering verbunden mit massiven Gedächtnisproblemen, fehlendem Antrieb und unzureichender Fähigkeit zur Selbstkritik.

Abhängigkeit auf Rezept

Eine Besonderheit der Medikamentenabhängigkeit ist es demnach, dass die Anwenderinnen und Anwender meistens Dosis und Häufigkeit des Konsums nicht frei bestimmen können, sondern ein Arzt (mit-)bestimmt. Häufig ist in diesem Zusammenhang vom "Dealer in Weiß" die Rede. Auch wenn diese Begrifflichkeit in Einzelfällen gerechtfertigt sein mag, so ist sie für einen Großteil der Ärzte unzutreffend. Die Ärzte und Ärztinnen wissen, welche Präparate eine Abhängigkeit hervorrufen können. In vielen Fällen wird aber nur dann eine Abhängigkeit diagnostiziert, wenn die Patientinnen und Patienten selbstständig die Dosis steigern bzw. die Abhängigkeitskriterien erfüllt sind.

Das Konstrukt der Niedrigdosisabhängigkeit dürfte zwar im Regelfall bekannt sein, da die Ärzte und Ärztinnen aber häufig die Vorteile der Behandlung mit dem Medikament als gewichtiger ansehen als die negativen Folgen der weiteren Einnahme und sie die Belastung des Entzuges scheuen, wird häufig an der Medikation festgehalten. Nur wenigen Ärzten und Ärztinnen dürfte das zuvor genannte Fünf-Phasen-Modell bekannt sein, sodass es eine Ausnahme bleibt, wenn sie die möglichen Folgen eines Langzeitkonsums daraufhin überprüfen und Vor- und Nachteile der Behandlung differenziert abwägen.

Nicht unerwähnt bleiben sollte an dieser Stelle die Rolle von Apotheken. Apothekerinnen und Apotheker sind gemäß der Apothekenbetriebsordnung gesetzlich dazu verpflichtet, bei Verdacht auf missbräuchliche Einnahme von Medikamenten die Herausgabe zu verweigern. Häufig wird aber ein entsprechender Konflikt sowohl mit der Patientin, dem Patienten als auch mit der verschreibenden Ärztin bzw. dem verschreibenden Arzt vermieden.

Seiteninfo

Text: Prof. Dr. Gerd Glaeske, Dr. med. Rüdiger Holzbach, Daniela Boeschen

Literaturempfehlung

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