Sucht und Missbrauch

Ein gesundheitsschädlicher Konsum von Medikamenten ist oftmals schwer zu erkennen. Die Einnahme erscheint dadurch legitimiert, dass es sich meistens um zugelassene Medikamente handelt, die in der Apotheke frei verkäuflich sind oder in der Arztpraxis verschrieben werden. Zudem fehlen insbesondere bei Schlaf- und Beruhigungsmitteln – die Mittel, die am häufigsten missbraucht werden – die klassischen Suchtkriterien: Die Betroffenen verlieren meistens nicht die Kontrolle über ihren Arzneimittelkonsum.

Niedrigdosisabhängigkeit und Fünf-Phasen-Modell

Sie nehmen täglich ihre ein, zwei oder drei Tabletten und müssen die Dosis zunächst nicht steigern. Dieses Phänomen wird „Niedrigdosisabhängigkeit“ genannt und betrifft Benzodiazepine und verwandte Substanzen (Zolpidem und Zopiclon, sogenannte Z-Drugs).Wenn die Betroffenen allerdings versuchen, das Medikament abzusetzen, treten Entzugserscheinungen auf, was die Betroffenen veranlasst, die Substanz weiterhin einzunehmen.

Nicht immer bleibt es dann bei einer „Niedrigdosisabhängigkeit“. Das „Fünf-Phasen-Modell“ nach Holzbach beschreibt den möglichen weiteren Verlauf: Über die Monate und Jahre verlieren die Medikamente schleichend ihre Wirkung, die alten Beschwerden tauchen wieder auf, so dass die Betroffenen allmählich über die Jahre die Dosis doch steigern. Sie leiden in der Folge unter Konzentrations- und Gedächtnisproblemen, ihr Gefühlsleben ist zunehmend gedämpft bis hin zur Abstumpfung und sie verspüren keine körperliche Energie mehr.

Klassische Abhängigkeit

Wird von Betroffenen die Dosis anschließend deutlich erhöht, ist eine klassische Abhängigkeit erreicht. Die Patienten müssen nach zusätzlichen Wegen suchen, um an die Tabletten heranzukommen: Sie wechseln die Ärzte, lassen sich immer neue Rezepte ausstellen, bitten Freunde und Verwandte um Rezepte oder Medikamente, versuchen es möglicherweise über illegale Quellen (Schwarzmarkt, Internet). Nach dem Diagnosekatalog ICD 10 (International Classification of Diseases, 10. Fassung) ist eine Abhängigkeit durch sechs Kriterien definiert:

  • starker Wunsch und/oder Zwang, das Medikament zu konsumieren
  • verminderte Kontrollfähigkeit bezüglich des Beginns, der Menge und/oder der Beendigung der Einnahme
  • körperliche Entzugssymptome
  • Toleranzentwicklung (Wirkverlust) und Dosissteigerung
  • erhöhter Zeitaufwand, um die Substanz zu beschaffen oder sich von den Folgen des Konsums zu erholen, verbunden mit der Vernachlässigung anderer Interessen
  • fortgesetzter Konsum trotz Folgeschäden

Seiteninfo

Text: Dr. med. Rüdiger Holzbach, Karen Hartig, Anke Nolte

Literaturempfehlung

Bundesärztekammer (Hrsg.) (2007): Medikamente - schädlicher Gebrauch und Abhängigkeit. Leitfaden für die ärztliche Praxis. Köln.

Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen (Hrsg.) (2013): Medikamentenabhängigkeit. Hamm: 2013. (Suchtmedizinische Reihe; 5)

Holzbach, Rüdiger (2009): Jahrelange Einnahme von Benzodiazepinen. Wann ein Entzug notwendig ist und wie er gelingt. In: MMW - Fortschritte der Medizin, 21, 36-39.

Holzbach, Rüdiger et al. (2010): Zusammenhang zwischen Verschreibungsverhalten der Ärzte und Medikamentenabhängigkeit ihrer Patienten. In: Bundesgesundheitsblatt 53 (4), 319-325.

Holzbach, Rüdiger (2010): Benzodiazepin-Langzeitgebrauch und -abhängigkeit. In: Fortschritte Neurologie und Psychiatrie, 78, 425-434.

Holzbach, Rüdiger et al. (2008a): Wie lange darf man Benzodiazepine geben? Eine Expertenbefragung. In: Sucht, 54(3), 163.

Nolte, Anke (2010). Vorsicht Suchtgefahr. Ein Interview mit Dr. Rüdiger Holzbach.
In: Bleibgesund. Herausgegeben von der AOK Westfalen-Lippe. 1/2010, S. 32-33.