Narkosemittel und Gase

Das Zeitalter der Narkose begann 1844, als der Zahnarzt H. Wells mit der Anwendung von Lachgas (Distickstoffoxid) schmerzfrei Zähne zog. 1846 wurde zum gleichen Zweck Äther als Narkosemittel eingeführt, 1847 folgte Chloroform. Mit solchen Narkosemitteln werden Teile des Zentralnervensystems gelähmt: die Schmerzempfindung, das Bewusstsein, die Abwehrreflexe und zumeist auch die Muskelspannung.

Die Mittel werden unterschieden nach der Art der Anwendung: Es gibt Inhalationsanästhetika und Injektionsanästhetika. Während zu Beginn des 20. Jahrhunderts äthersüchtige Schwestern oder Ärzte beschrieben wurden, haben sich die Narkosen in der heutigen Zeit so sehr verändert, dass Rauscherfahrungen kaum mehr möglich sind: Die geschlossenen Systeme, mit denen narkotisiert wird, lassen ein Kennenlernen der Wirkungen von Narkosemitteln kaum noch zu.

Übrig geblieben ist allerdings das Schnüffeln von Gasen, die früher als Narkosemittel Verwendung fanden. Lachgas wird noch manchmal genutzt, ebenso wie Amylnitrit oder Chorethyl. Beim Einatmen der Lösungsmitteldämpfe entsprechen die Wirkungen dem Verlauf der Narkosestadien: Zunächst lässt die Schmerzempfindlichkeit nach (Analgesiestadium, Stadium I), dann setzt eine Reflexsteigerung sowie eine Steigerung des Blutdrucks und der Herzfrequenz (Exzitationsstadium, Stadium II) ein. Daran schließt sich das Toleranzstadium an (Stadium III), in dem die Reflexe abgeschwächt, die Atmung regelmäßig und der Kreislauf stabil sind. Im folgenden Asphyxiestadium (Stadium IV) werden die vegetativen Zentren gelähmt, ohne künstliche Beatmung würde innerhalb weniger Minuten der Tod eintreten.

Beim Schnüffeln werden offensichtlich die Stadien II und III angestrebt. Der Rausch mit Schnüffelstoffen kann aber auch tödlich enden, wenn das Stadium IV erreicht wird. Schnüffelstoffe sind in vielen Klebern und Farben enthalten, die Verfügbarkeit ist daher allgegenwärtig. Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang noch das Amylnitrit ("Poppers"), das oftmals zusammen mit Marihuana als Mittel zur Steigerung der sexuellen Erlebnisfähigkeit eingesetzt wird. Es wirkt peripher gefäßerweiternd und z. B. auf den Schließmuskel entspannend, was den Analverkehr erleichtern kann. Das Mittel birgt aber ein erhebliches Gefährdungspotenzial (starker Blutdruckabfall) und wird daher nicht mehr als Arzneiwirkstoff angewendet.

Alle Formen von Narkosemitteln bergen das Risiko von Missbrauch und Abhängigkeit. Oftmals sind Angehörige von medizinischen Berufen (Ärzte, Anästhesie-Pflegepersonal) betroffen. Die Betroffenen verwenden in der Regel keine Inhalationsnarkosemittel, weil die Anwendung aufwendig ist. Für die Opioid-Narkosemittel Fentanyl, Sufentanil, Alfentanil und Remifentanil gilt im Wesentlichen das unter Abschnitt Amphetamine Beschriebene. Bei Narkosemitteln vom Barbiturattyp gelten die aufgeführten Probleme unter Barbiturate. Die beiden hier vor allem zu besprechenden Narkosemittel Ketamin und Propofol unterliegen der Betäubungsmittelverordnung und rufen ebenfalls eine Abhängigkeit hervor.

Die sowohl schmerzstillende als auch narkotisierende Wirkung von Ketamin steigert das Missbrauchsrisiko. Aufgrund der kurzen Plasmahalbwertszeit von zwei bis vier Stunden muss Ketamin sehr häufig nachgespritzt werden. Folgen der regelmäßigen Einnahme sind eine Übererregung des Herz-Kreislauf-Systems mit dem Risiko eines Herzinfarkts, andererseits können auch Pseudohalluzinationen, unangenehme Träume, Hypersalivation und motorische Unruhe resultieren. Als Langzeitfolge treten Schädigungen der ableitenden Harnwege auf mit Blasenentzündung und dem gesteigerten Risiko von Geschwürbildungen.

Propofol wirkt als reines Hypnotikum ähnlich wie die Benzodiazepine und Barbiturate über den GABA-Rezeptor (Hauptwirkmechanismus). Wegen seiner (kurz andauernden) euphorisierenden Wirkung mit der nachfolgenden dämpfenden Wirkung hat Propofol ein besonderes Abhängigkeitspotenzial. Ein weiterer psychischer Effekt können real wirkende Träume sein, vergleichbar mit der Wirkung von Halluzinogenen. Auch hier können angenehme Erlebnisse, aber auch "Horrortrips" auftreten. Die Folgen einer längeren Einnahme von Propofol können Stoffwechselentgleisungen mit Herz-Kreislauf-Störungen, Rhabdomyolyse und Laktatazidose sein.

Maier (2009) konnte bei einer anonymisierten Befragung von 182 Kollegen mindestens 63 Fälle von Arzneimittelmissbrauch unter Anästhesisten, Pflegepersonal, Chirurgen, Gynäkologen und Internisten erheben. Dabei stand an erster Stelle Fentanyl, an zweiter Stelle Propofol. Auch vier Fälle von Lachgas/Halothan wurden beschrieben. Dabei verliefen 40 Fälle letal (bei Propofol fast 60 %). Weniger als 25 % der Betroffenen konnten nach Wissen der Befragten wieder in einem Krankenhaus arbeiten.

Zum Entzug von Narkotika auf der Basis von Barbituraten, Benzodiazepinen oder Opioiden gelten die in den entsprechenden Kapiteln beschriebenen Vorgehensweisen.

Im Entzug von Propofol können Verwirrtheit, Halluzinationen, Tremor, Muskelzittern und sympathische Überreaktionen auftreten. Insbesondere bei höheren Dosierungen sollte der Entzug mit entsprechenden Überwachungsmöglichkeiten via Perfusor erfolgen. Bei entsprechend schwerer Entzugssymptomatik ist eine symptomatische Behandlung mit Benzodiazepinen, Betablockern und gegebenenfalls Clonidin indiziert, bei einer halluzinatorischen Symptomatik die Behandlung mit Haloperidol. Bei niedrigen Dosierungen kann eine Umstellung auf Benzodiazepine erfolgen und dann entsprechend den Standards bei den Benzodiazepinen reduziert werden.

Die Vorgehensweise beim Ketaminentzug ist entsprechend, wobei hier als ein erschwerendes Moment starke Schmerzen als Entzugssymptome hinzukommen können.

Wie dargestellt, sind letale Verläufe bei Narkosemittel-Abhängigkeit häufig. Gelingt der Entzug, stellt sich nicht nur wie bei anderen Abhängigkeiten das Problem der Abstinenz im Alltag und die Behandlung der zugrunde liegenden Probleme, sondern auch die Frage der beruflichen Perspektive. Der Einsatz der Narkosemittel zur Bewältigung des beruflichen Alltages macht die bisherige Überforderung deutlich. Die Griffnähe zu den Substanzen bei Fortführung der bisherigen beruflichen Tätigkeit bedeutet ein hohes Rückfallrisiko. Hinzu kommen ggf. berufsrechtliche Konsequenzen oder zumindest die verschärfte Kontrolle durch den Arbeitgeber und die Kollegen, was eine weitere Belastung darstellt.

Seiteninfo

Text: Prof. Dr. Gerd Glaeske, Dr. med. Rüdiger Holzbach, Daniela Boeschen

Literaturempfehlung

Maier, Christoph (2009): Süchtige Ärzte – ein oft tödliches Tabu. Internet: www.dgai-umfrage.de/postersucht.pdf, Zugriff: 20.02.2012.

Mutschler, Ernst et al. (2008): Arzneimittelwirkungen. Lehrbuch der Pharmakologie und Toxikologie. Stuttgart: Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft.

Poser, Wolfgang; Poser, Sigrid (1996): Medikamente - Missbrauch und Abhängigkeit. Entstehung - Verlauf - Behandlung. Stuttgart: Thieme.